Spielräume für Teilhabe – Wie Games demokratische Bildung fördern können
von Dejan Simonović & Jana Schäfer
Demokratiebildung ist weit mehr als das bloße Vermitteln von Fakten über politische Institutionen und Prozesse. Sie zielt darauf ab, junge Menschen zu befähigen, sich als aktive, reflektierte und verantwortungsbewusste Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft zu verstehen – und darin zu handeln. In einer Zeit, in der politische Inhalte und Diskussionen zunehmend online stattfinden – etwa über soziale Medien, digitale Kampagnen oder Plattformen wie YouTube, Instagram oder TikTok – verändern sich auch die Formen gesellschaftlicher Teilhabe. Laut der JIM-Studie 2024 informieren sich rund ein Drittel der 12- bis 19-Jährigen über diese Plattformen regelmäßig über aktuelle Geschehnisse. Politisches Interesse wächst dabei mit dem Alter: Während sich insgesamt nur etwa 16 % der Jugendlichen allgemein für Politik und Parteien interessieren, steigt das Interesse an Wahlen und politischen Prozessen spürbar mit zunehmendem Alter.
Gleichzeitig zeigt die Jugendstudie 2024 des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden- Württemberg, dass viele Jugendliche das Vertrauen in die Politik verloren haben. Zwar wird die Demokratie als Staatsform mehrheitlich befürwortet, doch viele Jugendliche sind unzufrieden mit dem politischen System und zweifeln daran, wirklich Einfluss nehmen zu können. Daher muss die Politik das Vertrauen junger Menschen zurückgewinnen, indem sie ihnen echte Beteiligungsmöglichkeiten bietet und zeigt: Deine Stimme zählt.
Games ermöglichen es, an die Lebensrealität junger Menschen anzuknüpfen, ihnen Spielräume zu eröffnen, die ihnen die Folgen von Entscheidungen aufzeigen und das Gefühl vermitteln, dass ihr Handeln etwas bewirken kann – ein zentrales Element demokratischer Bildung.
Digitale Spiele – insbesondere Serious Games – bieten in diesem veränderten medialen Umfeld ein großes, bisher oft unterschätztes Potenzial. 73 % der Jugendlichen spielen mehrmals pro Woche oder täglich digitale Spiele – damit sind Games ein fester Bestandteil jugendlicher Lebenswelten. Durch ihre Interaktivität ermöglichen sie es, politische Zusammenhänge nicht nur zu betrachten, sondern aktiv zu gestalten. Spieler und Spielerinnen übernehmen Rollen, treffen Entscheidungen und erleben deren Konsequenzen unmittelbar – ein Lernprozess, der über das kognitive Verständnis hinausgeht und Selbstwirksamkeit erlebbar macht. In narrativ gestalteten Spielwelten entsteht Immersion, also das Eintauchen in andere Lebensrealitäten, das die Identifikation mit handelnden Figuren fördert und Empathie für unterschiedliche Perspektiven schafft.
Gerade in der Demokratiebildung ist diese Verbindung von emotionalem und kognitivem Lernen zentral: Demokratie muss nicht nur verstanden, sondern auch gefühlt und gelebt werden können. Digitale Spiele bieten damit die Chance, Demokratie als erfahrbaren Aushandlungsprozess zu vermitteln – mit Konflikten, Dilemmata, Entscheidungen und Verantwortung. Im schulischen Kontext können sie Unterricht bereichern, Diskussionen anregen und einen Zugang zu komplexen Themen wie Macht, Teilhabe, Medienkritik oder Radikalisierung schaffen.
Im Folgenden werden vier ausgewählte Spiele vorgestellt, die sich für den Einsatz in der politischen Bildung im Schulunterricht besonders eignen:
Dieses Spiel von der bayrischen Landeszentrale für politische Bildung konfrontiert die Schulklasse mit politischen Medieninhalten und inszeniert kontroverse Wahlkampfdebatten. Dabei stimmen die Teilnehmenden zu verschiedenen Themen ab und haben am Ende die Wahl zwischen vier fiktiven Parteien. Dabei erleben sie ganz direkt, wie populistische Strategien, Desinformationen und manipulative Kommunikation wirken – nicht als distanzierte Beobachter und Beobachterinnen, sondern als Betroffene. Sie können Opfer von Falschmeldungen werden und auf Deep Fakes hereinfallen, Emotionen werden gezielt angesprochen und politische Entscheidungen erscheinen plötzlich gar nicht mehr so eindeutig. Das Spiel reagiert auf das Abstimmungsverhalten und bietet vier verschiedene Enden, die einen die Konsequenzen der Wahl und damit die Gefahren spüren lassen.
Deine Stimme macht die psychologische Wirkung von Populismus erfahrbar. Es eignet sich für den schulischen Einsatz ab Klasse 8 und bietet viel Diskussionsstoff im Nachgang. 2025 wurde das Spiel mit dem Deutschen Computerspielpreis in der Kategorie „Bestes Serious Game“ ausgezeichnet – eine Anerkennung für seine inhaltliche Tiefe und didaktische Qualität. Es sensibilisiert für demokratiegefährdete Tendenzen und fördert die Urteilskompetenz im Umgang mit politischen Medieninhalten.



In The Darkest Files übernehmen die Spielenden die Rolle der fiktiven Staatsanwältin Esther Katz im Frankfurt des Jahres 1956. Unter der Leitung des realen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer ermitteln sie in authentisch recherchierten NS-Verbrechen, die bislang ungesühnt blieben. Das Spiel basiert auf wahren Fällen und rekonstruiert die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit in der jungen Bundesrepublik. Das Spiel kombiniert Elemente aus Detektivarbeit und Gerichtsverhandlungen: Die Spielenden analysieren historische Dokumente, befragen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen und rekonstruieren Tatabläufe, um belastbare Anklagen zu formulieren. Dabei wird deutlich, wie schwierig es war, Gerechtigkeit in einer Gesellschaft zu erlangen, die vielfach noch von ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzt war. Obwohl The Darkest Files nicht speziell für den schulischen Einsatz entwickelt wurde und kostenpflichtig ist, bietet es durch seine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte einen hohen Bildungswert.
Es eignet sich besonders für den Einsatz in den Fächern Geschichte, Politik und Ethik ab der Sekundarstufe II. Das Spiel wurde von der Presse für seine eindringliche Darstellung der Nachkriegszeit und die gelungene Verbindung von Spielmechanik und historischem Inhalt gelobt. The Darkest Files ist auf verschiedenen Plattformen für den PC erhältlich und bietet eine einzigartige Möglichkeit, sich interaktiv mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen.
In The Feed übernehmen die Spielenden die Rolle einer KI-Praktikantin oder eines Praktikanten in einem fiktiven Social-Media-Konzern. Ihre Aufgabe: Den perfekten personalisierten Feed für vier verschiedene Nutzer und Nutzerinnen zusammenstellen – mit dem Ziel, deren Online-Aktivität möglichst lange aufrechtzuerhalten und dabei Daten zu sammeln. Was harmlos klingt, entpuppt sich schnell als kritische Auseinandersetzung mit den Mechanismen digitaler Plattformen: Algorithmen, Filterblasen, Shitstorms, Doxxing und emotionale Manipulation rücken ins Zentrum.
Das Spiel besteht aus vier narrativen Kapiteln, die jeweils individuelle Schicksale erzählen – etwa das der Klimaaktivistin Elif oder des Streamers Leo, der Opfer von Falschinformationen wird. Spielerisch wird so erfahrbar, wie Plattformmechanismen Identität, Emotionen und öffentliche Meinung beeinflussen. The Feed eignet sich ab Klasse 7 für den Einsatz in Gemeinschaftskunde, Ethik und Medienbildung. Es fördert Medienreflexion, kritisches Denken und die Fähigkeit, digitale Prozesse und deren gesellschaftliche Folgen zu hinterfragen.
Begleitend zum Spiel steht das analoge Reflexionsheft MEIN FEED zur Verfügung: eine Art medienpädagogisches Tagebuch mit Übungen zu Moodtracking, Fake News, Algorithmen, digitaler Selbstinszenierung oder Werbemechanismen – individuell, kreativ und niedrigschwellig konzipiert. Auch fächerübergreifende Projekte sind möglich: Von einer kritischen Analyse der Plattformökonomie (Wirtschaft/Politik) über philosophisch-ethische Reflexionen bis hin zu kreativen Schreibaufgaben im Fach Deutsch. Die Unterrichtsmaterialien sind umfangreich differenziert und bieten vielfältige Methodenimpulse. The Feed wurde von der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg gemeinsam mit Playing History realisiert und als innovativer Beitrag zur Medienkompetenzförderung vielfach ausgezeichnet.


Das interaktive Entscheidungsspiel Join the Comfortzone der Jugendstiftung Baden-Württemberg versetzt die Spielenden in einen fiktiven, totalitären Staat und konfrontiert sie mit einem tiefgreifenden Dilemma: Khan, ein junger Mitarbeiter eines staatlichen Fernsehsenders, steht vor der Entscheidung, seine kleine Schwester Kira zu verraten – oder gemeinsam mit ihr zu fliehen. Kira hat ein gesellschaftskritisches Gedicht veröffentlicht – ein Vorfall, der in dieser autoritären Gesellschaft schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht.
Das Spiel, erzählt in Form eines vielverzweigten Textadventures, bietet neun verschiedene Enden und arbeitet mit einem Sozialpunktesystem, das jede Entscheidung bewertet – und den Spielenden damit stets vor Augen führt, welche Folgen ihr Verhalten im System hat. Besonders wirkungsvoll: Die Spielerfahrung erzeugt eine emotionale Beteiligung, die bloßes Faktenlernen über totalitäre Regime weit übertrifft.

Join the Comfortzone eignet sich für den Unterricht ab Klasse 7 und lässt sich fächerübergreifend einsetzen – sowohl im Politik- und Ethikunterricht (Themen wie Grundrechte, Rechtsstaat, moralische Dilemmata) als auch im Fach Deutsch (literarisches Verstehen, Figurenanalyse, narrative Struktur).
Das begleitende Unterrichtsmaterial ermöglicht eine differenzierte Aufarbeitung: Von der Analyse der Erzählstruktur über produktive Schreibaufgaben (z. B. innere Monologe, Verteidigungsreden) bis hin zur Reflexion über Grundrechte und philosophische Gedankenexperimente. Die Lernenden erleben hautnah, was es bedeutet, in einem System zu leben, das die Meinungsfreiheit unterdrückt, und reflektieren im Nachgang über die Bedeutung demokratischer Werte und eigener moralischer Handlungsspielräume.
Join the Comfortzone ist damit ein eindrucksvolles Beispiel für erfahrungsbasierte Demokratiebildung und kann tiefgreifende Diskussionsprozesse im Klassenzimmer anstoßen – über Mitläufertum, Mut, Verantwortung und die Fragilität demokratischer Strukturen.
Ausblick
Digitale Spiele können einen wichtigen Beitrag zur Demokratiebildung leisten, indem sie politische Prozesse erfahrbar machen und zum Nachdenken anregen. Entscheidend ist jedoch, dass dieses simulierte Teilhabeerleben nicht an die Stelle realer Mitbestimmung tritt. Damit Demokratie für junge Menschen nicht abstrakt bleibt, braucht es konkrete Erfahrungen von Einfluss und Gestaltung – vor allem auch im schulischen Alltag.
Das sollte über die Wahl des Klassensprechers oder die Mitbestimmung bei der Sitzordnung hinaus gehen. So können Schülerinnen und Schüler auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Unterrichts einbezogen werden. Der Bildungsplan bietet in der Regel genügend Spielräume, wenn es um die Ausgestaltung des Kompetenzerwerbs geht, um auch auf Impulse und Ideen aus der Klasse aufzugreifen und diese in Entscheidungen, einzubeziehen und sie damit Einfluss nehmen zu lassen, was und wie gelernt wird. Mehr Mitbestimmung motiviert durch das Erfahren von Selbstwirksamkeit und die Möglichkeit eigene Interessen einzubringen. Es ist wichtig Räume zu schaffen, in denen junge Menschen erleben, dass ihre Stimme zählt und ihr Handeln Wirkung hat.
Denn auch wenn in unserer demokratischen Gesellschaft politische Teilhabe möglich, und gewünscht ist, nicht nur bei Wahlen, sondern beispielsweise auch durch zivilgesellschaftliches Engagement, zeigt sich in der Realität oft ein anderes Bild: Viele junge Menschen bleiben politisch passiv, weil sie das Gefühl haben, ihre Beteiligung verändert ohnehin nichts. Demokratiebildung muss deshalb nicht nur informieren, sondern auch ermutigen - zur aktiven Mitgestaltung im echten Leben und das findet für Jugendliche zu großen Teilen in der Schule statt.